Familien auf Zeit gesucht

Während die Zahl der Inobhutnahmen seit 2019 kontinuierlich steigt, finden sich immer weniger Menschen, die bereit sind, ein Kind aufzunehmen. Der Wetteraukreis wirbt daher verstärkt um Bereitschafts- und Vollzeitpflegeeltern.

Eine fröhliches Ehepaar lacht in die Kamera.

Heike und Frank Müller betreuen mit viel Humor, Lebensfreude und Gelassenheit seit über 30 Jahren Pflegekinder im Wetteraukreis. Foto: Projekt PETRA

Wenn Heike und Frank Müller über ihre Pflegekinder sprechen, klingt aus jedem Wort große Liebe und Dankbarkeit: „Alle unsere Pflegekinder haben unser Bewusstsein für das Leben und seine Herausforderungen erweitert. Wir schätzen die kleinen Dinge des Lebens heute mehr als früher. Ohne unsere Pflegekinder hätten wir vieles nicht gelernt. Sie zu betreuen ist für uns genauso wie bei einem leiblichen Kind: Man muss sein Leben an ein Kind anpassen.“

Vor 32 Jahren, erzählt Heike Müller, sei sie als Tagesmutter von einer Einrichtung angesprochen worden, ob die Familie sich vorstellen könne, auch ein Kind in Bereitschaftspflege aufzunehmen. Seitdem hatte das Ehepaar zehn Bereitschaftspflegekinder und fünf Vollzeitpflegekinder bei sich. Momentan leben noch drei bei ihnen. Die Müllers haben nie bereut, damals zugesagt zu haben: „Das Leben mit Pflegekindern ist spannend, herausfordernd, aber auch erfüllend, wenn man sieht, wie positiv sich die Kinder in ihrer Zweitfamilie entwickeln.“

Nach Menschen wie den Müllers wird deutschlandweit händeringend gesucht. Seit Jahren steigt die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die in Obhut genommen werden müssen, weil ihre Eltern überfordert sind. 2022 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 86.000 junge Menschen in Pflegefamilien. Sie haben oft eine schwierige Zeit hinter sich. Für Pflegefamilien, die in diesen Situationen ihr Haus öffnen und Geborgenheit und emotionale Stabilität vermitteln wollen, ist das eine Herausforderung. Im gesamten Bundesgebiet fehlen Schätzungen zufolge rund 4.000 Pflegefamilien.

Weniger Pflegeeltern auch im Wetteraukreis

Auch im Wetteraukreis hat sich die Zahl der Pflegefamilien erheblich reduziert, weiß Esther Kestenbaum vom Projekt PETRA (Partner für Erziehung, Therapie, Research und Analyse). Der private Träger in der Kinder- und Jugendhilfe verantwortet seit zehn Jahren im Auftrag des Wetteraukreises den Fachdienst für das Kinderpflegewesen. Gemeinsam mit dem Jugendamt berät er die Pflegeeltern im Alltag mit dem Pflegekind und im Umgang mit dessen Herkunftsfamilie: „Aktuell betreuen wir beim Projekt PETRA rund 120 Vollzeitpflegefamilien. Das sind 20 weniger als noch vor zehn Jahren. Viele von ihnen haben mehr als ein Pflegekind aufgenommen.“ Die Gründe für den Rückgang seien vielfältig, so Kestenbaum. Zunächst gebe es aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge einfach weniger Menschen, die eine Familie gründen wollten. Gesellschaftliche Krisen, wirtschaftliche Unsicherheiten und auch die Pandemie hätten zudem in den letzten Jahren dazu geführt, dass weniger Menschen ihr privates Heim für die Aufnahme eines fremden Kindes öffneten.

Die Kinder bringen ihre Lebensgeschichte mit

Natürlich seien die Herausforderungen für die aufnehmenden Familien nicht immer leicht zu bewältigen, sagt Kestenbaum. Sie spricht von „Humor, Lebensfreude und Gelassenheit“, von einem „hohen Maß an Offenheit“ und einem „großen Interesse an den Bedürfnissen der Kinder“, das die Pflegefamilien mitbringen müssten: „Egal, wie alt ein Pflegekind bei seiner Aufnahme ist, es hat bereits einen Beziehungsabbruch erlebt. Diese Kinder bringen ihre eigene Lebensgeschichte mit. Man muss sich immer zuerst fragen: Bin ich bereit, mein Leben auf ein Leben mit Kind umzustellen?“ Zudem sei es wichtig zu wissen, dass man zu einer „öffentlichen Familie“ werde, sein privates Zuhause also für das Jugendhilfesystem öffne und eng mit den Institutionen zusammenarbeiten müsse. Fachdienst und Jugendamt würden immer wieder zu Beratungen vorbeikommen.

Derzeit kümmert sich Projekt PETRA um 146 Pflegekinder und 14 Bereitschaftspflegekinder für den Wetteraukreis. Sie seien aufgrund mangelnder Erziehungskompetenz seitens der Eltern oder wegen Vernachlässigung aus ihren Herkunftsfamilien genommen worden, erklärt die Fachkraft: „Manche von ihnen haben sogar körperliche, seelische oder sexuelle Gewalterfahrungen gemacht.“ Kestenbaum betont, man könne Kinder aus ihren Familien nehmen, aber niemals die Familie aus den Kindern: „Pflegeeltern müssen der Familie des Kindes trotz aller Geschehnisse mit Wertschätzung gegenübertreten, damit das Pflegekind den Kontakt zu seiner Familie nicht verliert und seine Wurzeln kennt.“ In all dem sei es wichtig, sich als Pflegeeltern neben der Besonderheit des einzelnen Kindes auch der eigenen erzieherischen Stärken sowie der Grenzen bewusst zu sein. 

Mit jedem Kind, das geht, geht ein Stück Herz weg

Heike und Frank Müller sind sich dessen sehr bewusst. Sie haben in den vergangenen 32 Jahren viel über sich und noch mehr über Erziehung gelernt: „Wir haben gelernt, wie viel Zeit und Geduld beim Beziehungsaufbau notwendig sind. Und wir wären ohne unsere Pflegekinder keine Fachspezialisten für die Fetale Alkoholspektrumsstörung (FASD) oder für multiple Behinderungen geworden. Es ist uns wichtig, unsere Pflegekinder zu verstehen und zu fördern.“ Und sie sind froh, in all diesen Herausforderungen immer wieder vom Projekt PETRA unterstützt zu werden und sich weiterbilden zu können: „Man kann und muss nicht alles alleine schaffen.“

Denn hin und wieder müsse man auch mit Verlusten klarkommen. Natürlich sei ein Pflegeverhältnis auf Dauer wünschenswert, aber manchmal müsse sogar das Scheitern angenommen werden, wenn die eigene Form der Hilfe für das Kind nicht mehr ausreiche, sagt das Ehepaar. Mit jedem Kind, das gehe, gehe auch ein Stück Herz weg. Trotzdem wollen sie es immer wieder machen: „Jedes Kind hat ein Recht darauf, in einer sicheren Familie aufzuwachsen und behütet, gefördert und geliebt zu werden.“

Pflegefamilie werden  - Informationsveranstaltung des Wetteraukreises & Projekt PETRA

Alle, die sich dafür interessieren, Pflegefamilie zu werden, können sich am 08. Oktober 2024 (Dienstag) um 19:00 Uhr im Kreishaus in Friedberg am Europaplatz von Fachkräften des Projekts PETRA sowie des Jugendamtes des Wetteraukreises informieren und beraten lassen.

Weitere Informationen erhalten Interessierte bei Jutta Messerschmidt, Fachdienstleitung Jugendhilfe, 06031 83 3200 sowie bei Esther Kestenbaum, Projekt PETRA, 0151 575 020 57.

Veröffentlicht am: 05. September 2024